Ansichten

Die folgenden Gedankensplitter sind z.T.  im Familienjournal Münster ähnlich schon veröffentlicht worden. Sie unterliegen meinem Copyright. Für Nachdruckrechte bitte Kontakt aufnehmen.

Actually, I have seven fathers. That’s how many fell over my mother.


Actually, we – she and I – should not be alive. The last one wanted to shoot her.


Actually, only one of the seven stopped him. I wish he were my father.


Actually, I still cannot talk about it. But it comes out of me like a scream.


Actually, I want some help. Maybe I will still be able to talk. Before I die.


Maybe ….

Translation by Prof.Dr. A. Schwartz - Original "Anton" aus Distelblüten


Raum und Zeit - Konzentriert auf den Augenblick


Martha B. , Seniorenzentrum Heilig Geist, Sarstedt


Meine Welt ist geschrumpft – ich habe nur  noch meine Etage, wo ich mit dem Rollstuhl fahren kann. Das ist mein kleines Zuhause.

Soll ich aufstehen? Kommst du mit?

Manchmal büxe ich aus  und fahre mit dem Fahrstuhl nach oben oder unten. Neulich stieß ich mit dem Rollstuhl in einem Nebenraum an einen Fernseher, der schief auf einem Hocker stand. Das Gerät fiel runter, genau in die Fensterscheibe. Habe ich Dummheiten gemacht?

Wenn meine Kinder zu Besuch kommen, können wir noch in den Garten fahren oder sogar in die Fußgängerzone.


Nicht nur mein Raum ist geschrumpft, auch meine Zeit.

Ich habe viel vergessen, ich bin ja schon alt. Meine Kinder kann ich noch fragen, was gestern war und was morgen sein wird. Sie sind ein Teil meines Gedächtnisses geworden.

Mein Zeitfenster geht ein paar Minuten weit in die Vergangenheit und mit viel Glück auch ein paar Tage nach vorne, wenn Besuch angekündigt wird. Erkenne ich den Besuch noch?


Ich lebe ohne Zeitgefühl jetzt im Augenblick. Dazu gehören immer die vielen Lieder und Gebete von früher. Die kenne ich noch auswendig.

Meine Kinder sagen, dass ich vor drei Jahren eine neue Hüfte bekommen habe. Jetzt kann ich noch kurze Strecken mit dem Rollator gehen. Es muss immer jemand auf mich aufpassen.


Die Geschwister und alle Weggefährten sind schon tot. „Denkst du manchmal ans Sterben?“ fragt meine Tochter. Ach ja, das macht der Herrgott. Der  weiß schon, wann er mich holt. Ich fühle  mich noch wohl.


Am liebsten aber bete ich für meine Kinder und die anderen Menschen. Das ist meine Arbeit, das kann ich noch.


Und wenn es sein soll, dann feiere ich im August meinen nächsten Geburtstag. Dann werde ich 102 Jahre alt.


Tratsch


Einstein irrte, als er von zwei unendlichen Dingen sprach: der menschlichen Dummheit und dem Universum. Gut, beim Universum war er sich nicht sicher.


Ich kenne ein Drittes: den Tratsch. Er dreht sich unendlich oft im Kreis und ist dazu noch äußerst beliebt. Wir erfahren Neues über Nachbarn und können mit unserem Bekanntenkreis angeben: „Seht mal, wen ich alles kenne!“ Es sind nicht unbedingt Bosheiten, die erzählt werden. Da geht es um Reisen, Anschaffungen, was die Kinder so machen, Beziehungskrisen, Krankheiten. Besonders der Gesundheitszustand ist unerschöpfliches Thema. Besorgte Anteilnahme ist auch recht häufig.


Selten erfahre ich den Tratsch, der über mich die Runde macht. Doch manchmal hat jemand Nettes über mich gesagt und genau das wird mir nun zugetragen. So ein indirektes Kompliment tut gut. Ich finde es sogar angenehmer und überraschender, als wenn das Lob mir direkt gegeben würde.


Schlechtigkeiten über Bekannte weiterzutragen ist unfein und tabu. Es passiert leider trotzdem. Aber oft Gutes über Menschen zu berichten, das nehme ich mir nun vor. Es wird die Runde machen und kommt irgendwann beim Richtigen an.  Alle freuen sich: der Gepriesene, die Verbreiter der Nachricht und ich als Urheber. Dann ist meistens Schluss. Die Nachricht ist angekommen.


Einstein freut sich schließlich auch. Ein Tratsch ist doch nicht unendlich, da lag ich falsch.



Ich sehe was, was du nicht siehst


Die mir angebotene Wohnung ist alters- und behindertengerecht. Damit meinte der Makler nur, dass ich mit Rollator und Rollstuhl in die Dusche fahren könne.

Überhaupt, wer ist eigentlich behindert – sind es nur die Rollifahrer?

Meine ich auch Analphabeten? Nicht schreiben und lesen zu können ist sicher auch ein Handicap. Pictogramme beherrschen meine Wahrnehmung.

Früher habe ich die Chinesen bewundert, die sich viele tausend Zeichen merken mussten.

In der Menüleiste meines neuen Rechners sind nur Zeichen, auch Icons genannt, zu sehen. Wird damit Rücksicht auf Analphabeten genommen? 

In guter Absicht setzen die Programmierer auch Farben ein. Rot für Ablehnung, Grün für Zustimmung. Sogar auf Lebensmitteln sollen die Ampelfarben für einen leichten Überblick sorgen. Leider gehöre ich zu den 9  Prozent aller Männer, die behindert sind durch eine Rot-Grün-Farbenschwäche. Frauen sind begünstigt, nur 0,8% teilen meine Wahrnehmung der Welt.

Die „Normalen“ können sich gar nicht vorstellen, dass der Nachbar bei Rot und Grün Probleme hat.

„Was siehst du denn an der Ampel?“ - „Licht, oben und unten! Und weil ich weiß, oben hat Rot zu sein, weiß ich, wann ich anhalten muss.“

Es ist keine schlimme Behinderung, ich darf nur nicht Pilot werden wollen oder Techniker, der farbige Drähte erkennen muss. Vom Medizinstudium habe ich abgesehen, ich konnte nicht einmal sehen, wenn der Patient blass oder grün wurde.

Beim Mensch-Ärgere-Dich-Nicht und anderen Brettspielen mit Rot-Grün setze ich schon mal die falsche Figur, bei Blau und Gelb passiert dies nicht.

Wegen mir wird niemand Rot-Grün Markierungen abschaffen.

Seitdem meine Frau von meinem Handicap weiß, schimpft sie auch nicht mehr mit mir, wenn ich für sie das falsche Kleid aus dem Schrank hole. Und die roten Kirschen im grünen Baum kann ich auch erkennen – sie sind nämlich rund und Formen registriere ich sogar besser als die „Normalen.“



Junger Mann


„Junger Mann, hier ist kein Durchgang,“ höre ich und drehe mich nach dem vermeintlichen jungen Mann um. Ich bin allein und die Dame scheint mich gemeint zu haben. Ich bin geneigt zu antworten: „Entschuldigung, junge Frau, das habe ich glatt übersehen.“


Vielleicht sehe ich noch nicht aus wie knapp siebzig. Ich stehe zu meinem Alter, den Falten und dem grauen Haar. Jedoch, wenn eine jüngere Frau mich mit „Junger Mann“ anspricht, besonders in Verbindung mit einer Ermahnung, dann fühle ich mich ertappt wie in Schulzeiten. Die Anrede war freundlich gedacht, ich nahm es anders wahr: despektierlich.

Unserem pensionierten Pfarrer ist das beim Bäcker passiert: „Junger Mann, welche Brötchen möchten Sie haben?“


Redet man denn etwa eine siebzigjährige Frau, egal, ob mit nachfolgender Rüge oder weil einem „Hallo“ zu neutral ist, mit „Junge Frau“ an? Könnte man damit nicht leicht auf den berühmten Zeh treten?


Jeder hat so seine persönlichen Empfindlichkeiten, heute heißt das Triggerpunkte, auf die man angefasst und stirnrunzelnd reagiert.


Beim nächsten Mal möchte ich gern die Gelassenheit des freundlichen Herrn zeigen, der im Altenheim in gleicher Situation ganz langsam und ruhig antwortete: „Gutes Kind – Du tust mir viel Gutes an.“ Er ist fast neunzig.



"Beta Version"


Das neue Auto startet ganz prima, rollt leise und leicht aus der Garage und braust auf der Landstraße sicher um die Kurven – bis es plötzlich allein bremst, ausschert und vor einem Baum stoppt. Der Anruf beim Hersteller klärt mich schnell auf: „Sie haben eine Betaversion als Software, mit dieser gibt es noch Probleme. Möglicherweise haben Sie ungünstige Reifen oder ein falsches Aftershave, dass als Alkoholgenuss interpretiert wird. Probieren Sie einfach die Fahrt noch einmal.“

Undenkbar ein solches Szenario? Leider nein. Im weltweiten Netz bringen Firmen ungeniert unausgereifte Programme und Produkte auf den Markt, lassen den Kunden die Fehler finden. Das ginge ja noch, wenn man weiß, dass man nur Tester ist. Weiß ich es nicht, tappe ich in die Falle und bin sauer.

Doch wie oft bemerke ich gar nicht den Fehler? Gilt dann der Satz: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß?

Manchmal wünschte ich mir unwissend und damit zufrieden zu sein, denn wüsste ich von allen Betrügereien auf dieser Welt, nähme dies mir wohl die Lebensfreude. Andererseits, überließe ich dem bösen Luzifer ungestört das Feld, so  ärgerte ich mich auch.

Mehr als der Gedanke, übertölpelt worden zu sein, wurmt es mich, wenn andere mich für so blöd halten, dass man mich überlisten kann.

Die neuen Computer machen mir Angst. Sie sind so gut geworden, dass sie mir viele Entscheidungen abnehmen können. Und ich merke es nicht einmal – bis ich vor dem Baum stehe und mir bewusst wird, dass der Mensch nicht umsonst einen Kopf bekommen hat.




Reichtum


In Deutschland redet man nicht gern über das eigene Einkommen oder Vermögen, nicht so wie in den Vereinigten Staaten. In Schweden sind sogar die Einkommenssteuererklärungen des Nachbarn im Internet nachzulesen.


Paradoxerweise steigt die Armut in Deutschland jetzt wieder an, weil Tarifabschlüsse von 3,4% bei den Metallern das mittlere Einkommen erhöhen. Hierzulande ist man betroffen, wenn man weniger als 60% dieses Wertes erreicht.


Natürlich können wir unsere Armut nicht mit Not in Somalia oder anderswo vergleichen. Absolut ist ein Armer hier materiell reich im Vergleich zu den wirklich armen Ländern, wo Hunger, Kälte und Gewalt drohen. Die Fixierung des Reichtums auf Geld gefällt mir nicht.


Ich bin reich. Und diesen Reichtum habe ich mir nicht einmal selber erworben, er wurde mir zum großen Teil geschenkt. Zunächst bekam ich das Geschenk des Lebens. Dann Gesundheit bis zum heutigen Tag und ein Aufwachsen ohne Krieg. Ferner ermöglichte mir die Familie eine gute Ausbildung. Mein Schwiegervater gab mir den guten Rat, in jedem Monat eine Mark weniger auszugeben, als ich einnehmen würde. Das war möglich.


Geschenkt wurden mir drei gesunde Söhne, Enkelkinder, eine sorgende Ehefrau und ganz besonders wichtig folgende Einstellung: Meine Wünsche sind kleiner als die finanziellen Möglichkeiten. Ich möchte gar kein teures Auto haben, moderne Kleidung oder Goldbarren im Keller. Zum Reichtum gehört auch Zufriedenheit mit dem, was man geschenkt bekommen hat. Materieller Reichtum mag prima sein, er ist nicht das Maß aller Dinge.



Immer nur Fehler?


Es müsste bei mir als chronische Krankheit angesehen werden: Ich suche oft nur Fehler. In der Lehre als Radio- und Fernsehtechniker sollte ich die Defekte lokalisieren und mich nicht an funktionierenden Schaltkreisen erfreuen. Bei der Bundeswehr suchten andere nach meinen Fehlern. Später, als Techniker bei einer Computerfirma wurde die Fehlersuche stressig. Denn wenn ein großer Rechner an Festtagen kaputt war, hieß es immer: „SOFORT DEN FEHLER finden!“


Üblich war auch die Meldung: „Die Maschine spinnt!“ Ich stand daneben und meinte selber zu spinnen. Alles war in bester Ordnung und kaum hatte man dem Kunden den Rücken gedreht, kam ein Anruf: „Der Fehler ist wieder da.“ Diese sporadisch auftretenden Fehler sind sehr nervig. Das gilt auch für Menschen. Wenn ein Freund konstantes Verhalten zeigt, ist das einfacher als unstete Launen. Trotzdem, aufregend und spannend ist wechselndes Verhalten.

Als ich den Beruf wechselte hießen im Studium viele Themen: „Kritische Betrachtung der... unter besonderer Berücksichtigung ...“ - eben auch Fehlersuche.


Man brachte uns bei, mit einem Lob könne ich bei Schülern mehr bewirken als mit Tadel. Trotzdem, im Alltag bekamen die richtige Antworten der Schüler ein schlichtes Häkchen, falsche Lösungen brachte ihnen mehr Aufmerksamkeit ein. Das war auch ein Fehler von mir.

Was finde ich in Leserbriefen zuhauf? Die Leute meckern meistens herum und Lobeshymnen sind selten.

Und meine Frau? Sie sagt: „Du hast nicht nur Fehler gesucht, jeder macht auch Fehler und doch ist jeder zu etwas gut.“

Sie ergänzt: „Selbst wenn du nur als schlechtes Beispiel dastehst.“ Hat sie etwa mich gemeint?








Keine Angst vor nichts


„Wie, du hast keine Angst vor Kernkraftwerken?“ Ungläubiges Staunen liegt auf Johannas  Gesicht.

Nein, vor den  paar hundert Kernkraftwerken in aller Welt habe ich keine Angst.  Angst hatte ich in den Zeiten des Kalten Krieges vor den Menschen, die an den über zehntausend Atomwaffen saßen. Undenkbar, dass da jemand entrückt war  und eine Rakete startete? Ebenso undenkbar, dass ein Pilot absichtlich eine große Verkehrsmaschine abstürzen lässt?


Ich kenne die mathematischen Risiken und Chancen genau und – ignoriere sie dankbar ganz oft. Überängstlichkeit würde mir Lebensfreude nehmen, denn allein in fremde Länder zu reisen, auf gewohnten Komfort zu verzichten und auch mal spitzbübisch eine Regel zu übertreten, das beweist mir trotz Rentenalter, noch im Leben zu stehen.


Leichtsinnig bin ich dabei nicht. Es war überhaupt nicht schwierig und gefährlich, den Jakobsweg allein zu gehen. Und ganz ehrlich: Es tut meinem Ego gut, wenn ich damit mutig dastehe und Bewunderung einheimse.


Erfahrungswerte sagen: Das Risiko einer Scheidung mit ihren unerfreulichen Nebenwirkungen liegt bei einem Drittel. Ein gewaltiger Wert und Grund, sich den Schritt reiflich zu überlegen.

„Wie, du hattest keine Angst vor der Ehe?“ Im Prinzip rein rechnerisch schon, aber was kümmerten mich damals die Erkenntnisse der Statistik.


Spuren im Leben


Die  zahlreichen Geschwister meiner Mutter sind alle verstorben. Sie hatten spannende Lebensläufe und ich hätte diese gern aufgeschrieben – tat es aber nicht rechtzeitig. Die Spuren des Vaters sind jetzt schon verweht. Was bleibt von mir nach Hunderten von Jahren? Werden es nur die schwer auffindbaren Knochen und verwehte Asche sein? Meine Gene werden lange nachweisbar sein in den Ahnenreihen vieler Menschen. Jetzt habe ich sechs Enkel. Aber ich, meine Persönlichkeit und Erlebnisse werden vergessen sein. Dann  bin ich endgültig gestorben.


2012 sah ich in der libyschen Wüste Reifenspuren aus dem II. Weltkrieg, die schon Jahrzehnte überdauert hatten. Wandmalereien aus grauer Vorzeit konnte ich da betrachten. Welche Spuren werde ich hinterlassen? Meine Taten und Werke sind zu unbedeutend um in die Geschichtsbücher einzugehen. Ich könnte nur Worte hinterlassen.


Am Anfang war es schwer Erinnerungen in Sätze zu fassen, irgendwann ging es fast von selbst.  Es hat mir selbst gut getan, mein Leben zu reflektieren, einen Abschluss zu finden.

Inzwischen lernte ich viele Menschen kennen, die in ihrem Leben etwas vergraben haben, nicht darüber sprechen wollten und unter diesem Schweigen leiden. Ich möchte sie ermuntern, darüber zu schreiben. Stil und Grammatik sind völlig egal. Jeder kann seine Spur hinterlassen. Dafür sind uns  Worte und die Schrift geschenkt worden.

Mit dem ersten Blatt Papier ist der Anfang gemacht und nur dieser Anfang ist schwer.


Als Kind überlegte ich, was unsterblich sei und fand: Gedanken sind unsterblich, auch wenn das Papier, auf dem ich sie niederlegte vergangen sein wird.